MAHLE, MÜHLE, MAHLE
Das erste Gedicht, das ich auswendig gelernt habe, kannte ich schon Jahre, bevor ich in die Schule kam. Meine Mutter, die eine stolze Müllerstochter war, hat die magische Verse wieder und wieder wiederholt, um mich zum Einschlafen zu bringen. Sie hatte sie bei allen möglichen Gelegenheiten auf den Lippen, als wären sie Zaubersprüche und könnten Ärger und Unheil abwenden. Ich kenne sie bis heute auswendig und kann sie aus dem Stegreif niederschreiben.
Mahle, Mühle, mahle
Es geht ein goldenes Ährenfeld,
das geht bis an den Rand der Welt.
Mahle, Mühle, mahle…
Es stockt der Wind im weiten Land,
viele Mühlen stehen am Himmelsrand.
Mahle, Mühle, mahle…
Es kommt ein dunkles Abendrot,
viel arme Leute schrein nach Brot.
Mahle, Mühle, mahle…
Es hält die Nacht den Sturm im Schoß,
und morgen geht die Arbeit los.
Mahle, Mühle, mahle…
Es fegt der Wind die Felder rein,
es wird kein Mensch mehr Hunger schrein.
Mahle, Mühle, mahle…
Dass diese magischen Verse, deren Klang mich später an das suggestive Hare-Krishna-Hare der indischen Yogijünger erinnerten, von einem deutschem Dichter stammten und dass dieser Dichter Richard Dehmel hieß, habe ich erst während meines Studiums der Literaturwissenschaften dazu gelernt. Vorher haben meine Mutter und ich die Mühlenverse für Volksgut gehalten, Verfasser unbekannt. Mahle, Mühle, Mahle: dieses Gedicht stand auf einer großen hölzernen, von Ähren umrankten Tafel am Eingang zur Mühle. Es war in kräftiger altdeutscher Schrift geschrieben, und am unteren Rand stand in lateinischen Buchstaben: „Gestiftet von der Müllerinnung Land Wursten und Hadeln 1908.“ 1908 – das war auch das Geburtsjahr meiner Mutter. Für mich war und blieb es Mutters Gedicht. Auch in späteren Jahren hat sie ihr Dankgebet für die unerschöpfliche, ewig erneuerbare, gleichsam vom Himmel geschenkte Windkraft immer wieder fast wie ein Mantra vor sich hin gemurmelt. Auf ihrem Sterbebett gingen ihre letzten Atemzüge über in „Mahle, Mühle, mahle…“, ehe der Wind ihre Seele vom Rand dieser Welt über den Himmelsrand hinüberwehte in die wogenden Getreidefelder des Paradieses.
Doch die mit Ausnahme des Sonntags Werktag für Werktag mahlende Mühle forderte auch ihre Opfer, zuerst den Müller selber. Aufgrund des Mehlstaubes, den er seit seiner Kindheit eingeatmet hatte – auch sein Vater war Mühlenbesitzer – erkrankte mein Großvater mit fünfzig Jahren an schwerem Asthma und musste wenig später seine Mühle an einen nahen Verwandten zunächst verpachten und schließlich verkaufen. Aber der neue Müller hielt am alten Brauchtum fest. Zu jedem Erntedankfest am ersten Sonntag im Oktober fuhr er auf einer Schubkarre zehn Roggen-, Gerste- und Hafergarben zur Basbecker Kirche und baute daraus direkt vor dem Altar einen standfesten Hocken auf. Davor stellte er die Holztafel mit dem Mahle-Mühle-Mahle-Gedicht von Richard Dehmel. Nach dem Erntedankgottesdienst trug er alle Garben herüber zur Familiengrabstätte nahe dem Kirchturm. Dort legte er sie nieder, weil auch die Mäuse und die Vögel des Himmels ihren Anteil vom Erntesegen abbekommen sollten. Auch die Tafel mit dem Gedicht lehnte er für ein paar Tage, bis die Tiere die Getreidekörner aufgefressen hart, an einen Findlingsgrabstein. Das blieb bis 1962 der Brauch, bis in einer stürmischen Nacht die über hundert Jahre alte Holländermühle bis auf die Grundmauern niederbrannte. Auch die hölzerne Tafel mit den unsterblichen Versen von Richard Dehmel fiel den Flammen zum Opfer.
PETER SCHÜTT