Es war der Morgen nach der Umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit. Nachdem es den ganzen Winter über keinen Schnee gegeben hatte, schneite es zur Abwechslung draußen in dicken Flocken. Mein Nachbar, den wir alle unse-ren alten Bullerballer nannten, klingelte mich schon in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett.
Wo ist er denn bloß, wo bleibt er denn nun!
Wer? Wen meinst du?
Wen schon? Deinen lieben Gott!
Ich versuchte, Heinrich in seinem Zornesausbruch zu mäßigen. Meinst du, Gott, an den du nicht glauben willst, hätte uns diese Corona-Pandemie geschickt?
Er wusste nichts zu sagen. Er grummelte nur:
Wer sonst!
Ich widersprach ihm mit aller Deutlichkeit.
Diese Seuche ist Menschenwerk. Die Natur schlägt zurück, nach all dem, was wir Menschen unserer Natur angetan haben.
Bleib mir bloß weg mit deinen verrückten Fridays for Future!, fiel mir mein grantiger Nachbar ins Wort.
Und jetzt rufst du plötzlich nach Gott?
Ja, wo ist er denn? In der Kirche oder in deiner Moschee?
Nee, da kannst du ihn jetzt nicht finden. Die Gotteshäuser haben alle dichtgemacht.
Ja, wo denn sonst?
Du findest ihn nur in deinem Herzen!
Heinrich lachte höhnisch.
Ich hab kein Herz. Da fühl ich höchstens ein großes Loch.
Wenn du aus deinem Herzen keine Mördergrube machst, wenn Du versuchst, dein großes Loch mit guten Gedanken auszufüllen, mit Liebe, mit Mitleid, mit Barmherzigkeit…
Heinrich seufzte tief.
… dann begreifst du vielleicht die Lektion, die Gott uns erteilen möchte, nachdem wir uns so gegen seine, gegen unsere Natur versündigt haben.
Liebe und Barmherzigkeit, das sind bloß leere fromme Worte, kam es aus dem Telefon zurück. Ich habe davon noch nichts bemerkt.
Bei dir vielleicht nicht, hakte ich ein, aber vielleicht doch bei anderen, bei deinen Nachbarn…
Ja, wart mal, unterbrach mich mein Heinrich-der-Wagen-bricht, gestern hat der Junge aus dem Stockwerk unter mir bei mir an der Tür geklingelt und gefragt: Opa, kann ich dir helfen und für dich einkaufen? Du darfst doch nicht raus.
Und was hast du gesagt?
Wart mal! Was hab ich gesagt? Junge, dich hat der liebe Gott geschickt!
Dann sag ich nur: Gott sei Dank! Auch für deinen Anruf so früh am Morgen!
PETER SCHÜTT